„Lebe wohl, vergiß mich nicht!“
Das Poesiealbum – ein interessanter Zeitspiegel

Sonderausstellung im Lohrer Schulmuseum vom 31. Januar 2010 bis 28. Februar 2010

Aus dem Archiv des Lohrer Schulmuseums, zusammengestellt von Eduard Stenger
Vorderer Einbanddeckel eines Poesiealbums mit Einträgen aus den Jahren 1887-1888
Vorderer Einbanddeckel eines Poesiealbums mit Einträgen aus den Jahren 1887-1888

Seit gut 150 Jahren ist das Poesiealbum eine vor allem bei den Mädchen beliebte Form, sich der gegenseitigen Freundschaft und Zuneigung in Bild und Wort zu versichern. In der historischen Zusammenschau sind diese Poesiebücher heute auch anschauliche Zeitdokumente, weil sie uns durch Text, Ausdrucksweise und Auswahl der Illustrationen vielseitige Einblicke in die jeweilige Zeit ermöglichen.
Blatt aus dem Stammbuch des Würzburger Studenten und späteren Arztes Michael Joseph Weber
Blatt aus dem Stammbuch des Würzburger Studenten und späteren Arztes Michael Joseph Weber (sein Sohn war später Bezirkstierarzt in Lohr a.Main)– Szene in einer Studentenkneipe.Handschriftliche Widmung: „Brüder, hier steht Bier statt Wein – Traute Brüder schenkt euch ein – Vivat jeder brave Mann – der dem Sklavenjoch
entrann - Zum Andenken an Deinen wahren Freunde And. Johanni med. cand. - Würzburg den 5ten May 1817.“Das „Sklavenjoch“ ist wohl eine Anspielung auf das „Ehejoch“.


Wie sehr auch die Einträge in den Alben von dem gesellschaftlichen und politischen Zeitgeschehen beeinflusst wurden, zeigen die Widmungen aus der Zeit des Dritten Reichs (1933-1945):
17. 3. 1934: „ Wer leben will, der kämpft!
Und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens,
verdient das Leben nicht. Adolf Hitler.“
April 1935: „Sie immer treu und edel
Und bleib ein Deutsches Mädel!“
25. 3. 1939: „Sieh im letzten deiner Volksgenossen immer noch den Träger deines Blutes, mit dem dich das Schicksal auf dieser Erde unzertrennlich verbunden hat und schätze deshalb in deinem Volke den letzten Straßenfeger höher als den König eines fremden Landes.
(Adolf Hitler)“

23. 1939: „Frei ist nicht, wer tun kann, was er will, sondern wer werden kann, was er soll.“
21. 11. 1939: „Leben heißt kämpfen, opfern, reifen, emporsteigen!“
Gedrucktes Blatt für ein Stammbuch, um 1845.
Gedrucktes Blatt für ein Stammbuch, um 1845.Handschriftliche Widmung: „Möchtest Du Dich bei Durchlesung dieser Zeilen oft
und gerne Deines Freundes, der ein aufrichtiger Freund zu sein glaubt, erinnern.Das wünscht Dein Turnbruder und Freund J. G. Mößel“


Entstanden ist das Poesiealbum aus dem sog. Stammbuch, das auch als „Album amicorum“ (= Album der Freunde) ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in Umlauf kam. In die meist querformatigen Büchlein, auch in Schuberform, trugen sich Freunde, Verwandte, Gönner usw. als Zeichen ihrer Freundschaft mit handschriftlichen kurzen Texten, oft in Versform, ein.
Im 18.Jahrhundert bildete sich eine eigene Industrie, die vorgefertigte Grafiken als „Stammtischblätter“ anbot, die individuell beschriftet und dann eingeheftet wurden. Vor allem bei den Studenten erfreute sich das Stammbuch großer Beliebtheit. Es diente ihnen auch zum Sammeln von Empfehlungsschreiben der Professoren und anderer für sie wichtigen Persönlichkeiten und war so gewissermaßen eine Art Legitimation, wenn sie sich bei einer anderen Universität vorstellten. Der Ausdruck „jemandem etwas ins Stammbuch schreiben“ bezieht sich wohl auf diese Gewohnheit. Gegen 1850 kam das Stammbuch außer Mode. Nun übernahmen mit entsprechenden Widmungen versehene Couleurartikel die Funktion des Freundschaftssouvenirs, wie sie noch heute bei den Studentenverbindungen üblich sind.
Gedrucktes Blatt für ein Poesiealbum, um 1855
Gedrucktes Blatt für ein Poesiealbum, um 1855

Das Poesiealbum trat an die Stelle des Stammbuches, nun allerdings als eine vor allem von Mädchen bevorzugte Form der Freundschaftsbezeugung.Im Archiv des Lohrer Schulmuseums befinden sich zahlreiche Poesiealben, die einen guten Einblick in die Geschichte dieser Freundschaftsbücher ermöglichen.Die Texte der frühen Poesiealben sind oft noch sehr beeinflusst von der Biedermeierzeit und der Romantik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und und entsprechend unpolitisch.
Doppelseite aus dem Poesiealbum der Lohrerin Babette Vogt (geboren 1863, gestorben 1939) mit Einträgen aus den Jahren 1877-1882, in dieser Zeit Schülerin des Lehrerinnen-Seminars in Aschaffenburg.
Doppelseite aus dem Poesiealbum der Lohrerin Babette Vogt (geboren 1863, gestorben 1939) mit Einträgen aus den Jahren 1877-1882,
in dieser Zeit Schülerin des Lehrerinnen-Seminars in Aschaffenburg. Handschriftliche Widmung: „Zum Andenken! So wie die Rosen blühen,
So blühe stets Dein Glück, Und wenn Du Rosen siehst, So denk an mich zurück. Zum Andenken von Deiner Mitschülerin Mathilde Nappenbach.
Lohr, den 3. Mai 1877“


Neben den üblichen Zwei- und Vierzeilern finden sich auch ausführliche Gedichte, sorgfältig niedergeschrieben
und illustriert, so der nachstehende Eintrag aus dem Jahr 1879:

„Asyl!
Wenn Du ein tiefes Leid erfahren,
Tiefschmerzlich, unergründlich bang,
Dann flüchte aus der Menschen Scharen,
Zum Walde richte Deinen Gang.
Die Felsen und die Bäume wissen
Ein Wort zu sagen auch vom Schmerz;
Der Sturm, der Blitz hat oft zerrissen
Die Felsenbrust, des Waldes Herz.
Sie werden Dir kein Trostwort sagen,
Wie hülfereich die Menschen tun;
Doch wird ihr Echo mit Dir klagen,
Und wieder schweigend mit Dir ruh'n!“
Doppelseite aus dem Poesiealbum der Lohrerin Babette Vogt mit Einträgen aus den Jahren 1877-1882, in dieser Zeit Schülerin des Lehrerinnen-Seminars in Aschaffenburg.
Doppelseite aus dem Poesiealbum der Lohrerin Babette Vogt mit Einträgen aus den Jahren 1877-1882, in dieser Zeit Schülerin des
Lehrerinnen-Seminars in Aschaffenburg.Handschriftliche Widmung: „Erinnerung.Wenn uns gleich Berg und Hügel trennen, Trennt uns
doch nicht das Freundschafts-Band.Freundin wollen wir uns nennen, Bis wir stehen am Grabes-Rand. O, du kleiner Erdenhügel!
Sollten wir uns trennen dort?Nein, das Grab hat keine Riegel, Wahre Freundschaft dauert ewig, ewig fort.
Liebe Babet denke auch in der Ferne an Deine Mitschülerin Lina Scherf. Lohr, den 1/30/77“


Nach den üblen Erfahrungen mit dem NS-Reich wurde das Poesiealbum wieder unpolitisch. Allerdings befindet sich in dem Poesiealbum einer Lohrer Schülerin ein bemerkenswerter Eintrag aus dem Jahr 1953 ( ! ):
„Kämpfen kann ich nur für etwas, das ich liebe. (Hitler)“ - ein Beispiel für die „unpolitischen“ Nachkriegsjahre, in denen viele LehrerInnen im Geschichtsunterricht möglichst das Dritte Reich weitgehend ausklammerten oder nicht entsprechend kritisch darstellten.
Im Wesentlichen aber waren, und ähnlich bis heute, nun wieder die unpolitisch-typischen Zwei- und Vierzeiler beliebt, so z. B.:

„Bist du einst in weiter Ferne,
bist du über Berg und Tal,
so gedenk an deine Heimat,
aber auch an mich einmal.“

„Wie zwei Täubchen sich küssen
Die nichts von Falschheit wissen
So fromm und so rein
Soll auch unsre Freundschaft sein.“

„Tief im Moose verborgen,
Blüht ein Blümlein ohne Sorgen,
Dieses Blümlein spricht:
Lebe wohl,vergiß mich nicht!“
Vorderer Einbanddeckel eines Poesiealbums mit Einträgen aus dem Jahr 1848
Vorderer Einbanddeckel eines Poesiealbums mit Einträgen aus dem Jahr 1848

Ob sich das Poesiealbum auch noch in der zukünftigen Kommunikation behaupten kann, erscheint
allerdings eher fraglich.
Was bleibt sind Erinnerungen an die Jugend, an Freundschaften und Zuneigung.
Darüber hinaus ist das Poesiealbum ein anschaulicher Informant, der auf eine ganz besondere Weise
 viel aussagen kann über Moral, Lebensweisheiten und individuelle Lebenswelten vergangener Epochen.

Doppelseite aus dem Poesiealbum der Theresia Freitag (verh. Stenger) aus Halsbach.
Doppelseite aus dem Poesiealbum der Theresia Freitag (verh. Stenger) aus Halsbach. Text: „Aus Freundschaft! Ich weiß ein  schönes Sprügelein
 (gemeint ist wohl: Sprüchelein) Das hat Gold in sich, Läßt Du es Dir befohlen sein, Im Herzen freut es Dich Es heißt: O, liebe mich. Dies schrieb
Dir zum Andenken Deine Freundin Hedwig Freitag Den (richtig: Das) Datum kann ich nicht wissen. DerKalender ist zerrissen.“


oppelseite aus dem Poesiealbum der Anna Freitag (verh. Riedmann) aus Halsbach:
Doppelseite aus dem Poesiealbum der Anna Freitag (verh. Riedmann) aus Halsbach: Texte linke Seite: „Zur Erinnerung. Anna,
Anna denk an mich, ewig, ewig lieb ich Dich. Wenn ich einst gestorben bin, Steh' ich in Dein Album drin. Zur steten Erinnerung
an Deine Dich liebende Freundin Justine Riedmann. Den (richtig: Das) Datum kann ich nicht wissen,  Denn die Mäuse haben
den Kalender zerrissen.“ Text rechte Seite. „Aus Liebe. Wenn Du glaubst ich lieb Dich nicht Und treibe mit Dir Scherz So zünde
eine Laterne an Und schau mir in das Herz. Zur Erinnerung an Barbara Freitag. Vergißmeinnicht. Halsbach, den 12. September 20.“


Das Lohrer Schulmuseum im Ortsteil Lohr-Sendelbach ist von Mittwoch bis Sonntag und an allen
gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Gruppen können auch nach vorheriger
Absprache außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen.
(Kontakt: Eduard Stenger, Zum Sommerhof 20, 97816 Lohr a.Main;
Tel. 09352/4960 oder 09359/317,
e-Mail: eduard.stenger@gmx.net)

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