„Abenteuer einer Fahrt von Lohr nach Amerika“
Tagebuchaufzeichnungen eines Lohrer Auswanderers aus den Jahren 1853 bis 1855
In der Bayerischen Landesausstellung 2013 mit dem Thema MAIN UND MEER vom 9.Mai bis 13. Oktober 2013
in der Kunsthalle Schweinfurt wird auch das Tagebuch eines Lohrer Auswanderers gezeigt. Nach Angaben der Ausstellungsmacher sind die Aufzeichnungen von besonderer Bedeutung, weil der Auswanderer Franz Niedermaier, im Gegensatz zu ähnlichen Reisebeschreibungen, bereits ab seinem Heimatort Lohr a. Main sein Tagebuch führte.

Tagebuch des Franz Niedermaier und  kunstvoll geflochtene kleine Haarteile, wahrscheinlich die einzigen Erinnerungsstücke des Lohrer Auswanderers an seine Familie und Freunde in Lohr am Main aus der Umschlagtasche des Tagebuches.
Tagebuch des Franz Niedermaier und  kunstvoll geflochtene kleine Haarteile,
wahrscheinlich die einzigen Erinnerungsstücke des Lohrer Auswanderers an seine
Familie und Freunde in Lohr am Main aus der Umschlagtasche des Tagebuches.
Das geöffnete Tagebuch des Franz Niedermaier und  kunstvoll geflochtene kleine Haarteile in der Umschlagtasche des Tagebuches.
Das geöffnete Tagebuch des Franz Niedermaier und
 kunstvoll geflochtene kleine Haarteile in der
Umschlagtasche des Tagebuches.

Im Archiv des Lohrer Schulmuseums befindet sich das Tagebuch des Lohrer Auswanderers Franz Niedermaier, der am 21. Mai 1853 eine fast 60-tägige Reise nach Nordamerika antrat. Was der ledige Zimmergeselle auf dieser Reise erlebte, hielt er in einem sorgfältig geführten Tagebuch fest und ermöglicht dem heutigen Leser eine recht genaue Vorstellung von den Problemen und Schwierigkeiten, mit denen damals Auswanderer konfrontiert wurden. Wegen des Umfangs kann allerdings nur ein auszugsweiser Bericht gebracht werden.

„DIE AUSWANDERER“, Schulwandbild von Müller Wachsmuth 1925,
„DIE AUSWANDERER“, Schulwandbild von Müller Wachsmuth 1925,
darstellend die Zeit um 1850, Verlag F.E. Wachsmuth, Leipzig
Von Lohr nach Liverpool:
Nachdem ich von euch, ihr teuren Freunde, Abschied genommen hatte und das verhängnisvolle Schiff Friedrich Wilhelm betreten und die Mauern Lohrs weit hinter mir gelassen hatte, überschlich mich ein Gefühl von Wehmut, welches ich euch nicht beschreiben kann. Die Fahrt von Lohr nach Frankfurt war wegen Mangel an Unterhaltung sehr langweilig. In Frankfurt angelangt accordirte ich noch denselben Abend über Liverpool nach New York um den Preis von 60 Gulden (für einen Gulden erhielt man damals ca. 20 Pfund Roggenbrot bzw. 7 Pfund Schweinefleisch; der Sackenbacher Lehrer verdiente im Jahr ca. 180 Gulden bei freier Wohnung und einigen Naturalien). Nun so auf der Fahrt nach Biberich alleinstehend und von den übrigen Lohrern in Mainz schon verlassen, warf mich doch die Schicksalsgöttin wieder an die Seite eines guten Freundes nomine (namens) Kohler. Hiermit stelle ich Fortuna ferner anheim, wohin sie mich in Begleitung dieses Freundes werfen wird. Ich schließe hiermit meine erste Notiz über meine Reise bis Biberich.
Biberich, den 22. Mai 1853
Inserat im „Lohrer Anzeige-Blatt für Lohr und Umgebung“ am 30. April 1851
Inserat im „Lohrer Anzeige-Blatt für Lohr und Umgebung“ am 30. April 1851
Am 23. Mai fuhren wir von Biberich weg, um unsere Reise bis Rotterdam fortzusetzen. Wir glitten ruhig über die Wellen des alten Vaters Rhein und ergötzten uns an den Naturschönheiten, welche sich unseren Augen darboten. So in Träumen über die alte so glückliche Zeit dieser alten Ritterburgen versunken, wurden wir durch das Gesummse einiger 100 Auswanderer aufgeschreckt, welche in Coblenz zu uns stießen. Nun begann unser Elend. Unser Dampfschiff war so voll Menschen, daß auf dem Verdeck kaum noch ein Unterkommen für die Leute war. Die ganze Nacht war ein Gelärme und Kindergeschrei, daß uns die Sinne vergingen und wir halb betäubt von dem gräßlichen Gestanke nur kurze Zeit Schlaf fanden. Endlich nach langen Leiden zeigte sich die Morgenröte...
Nun wurde die Fahrt durch die Visitation, welche preußische Zollbeamte vornahmen, unterbrochen...
Als wir in Rotterdam ankamen, fuhren wir um drei viertel zwölf desselben Tages auf einem Colosse von Dampfschiff von Rotterdam ab hinunter und in die Nordsee. Sobald das Schiff von den Wellen der tückischen Nordsee berührt wurde, befiehl uns alle zur gleichen Zeit die Seekrankheit. Tief in der Nacht schliefen wir nach unsäglichen Mühen und Kotzereien ein...
In Hull durften wir uns nach genauer Untersuchung ans Land begeben, wo wir überall von den dortigen deutschen Gastwirten, welche aber Juden waren, in Empfang genommen wurden.
Inserat im „Lohrer Anzeige-Blatt für Lohr und Umgebung“ am 9. April 1851
Inserat im „Lohrer Anzeige-Blatt für Lohr und Umgebung“ am 9. April 1851
Um 11 Uhr mittags fuhren wir mit einem Zug nach Liverpool. Dort angelangt wurden wir in ein deutsches Gasthaus geführt, frei verköstigt und logiert. Als wir am 27. Mai um 4 Uhr unser Schiff betraten und uns unsere Plätze angewiesen wurden, mußten wir feststellen, daß wir die einzigen Deutschen waren und niemand auf dem Schiff Deutsch verstand. Hier saßen wir nun wie die Pilger in der Wüste Sahara, welche von den  lauernden Augen der Sarazenen bewacht werden. Es waren noch etwa 400 Irländer mit uns auf dem Schiffe. Ihr werdet wohl diese Sorte Leute aus der Geschichte kennen. Sie sind bekannt durch ihre Rohheit, Unzucht und Unverträglichkeit gegen andere Nationen. Diese Leute sind im Vergleich mit uns um 100 Jahre in der Bildung zurück. Kupferhäute (Indianer) in Amerika besitzen mehr Bildung.
„Lohrer Anzeige-Blatt für Lohr und Umgebung“, Titelseite am 26. April 1851
„Lohrer Anzeige-Blatt für Lohr und Umgebung“, Titelseite am 26. April 1851
Beim Durchblättern der Zeitung fallen die häufigen Versteigerungen im Lohrer Rathaus auf – ein Indikator für die damalige allgemeine schwierige wirtschaftliche Lage.
Vor allem die Lebensmittelversorgung war infolge von Kartoffelmissernten dramatisch. So stieg der Brotpreis im September 1851 in Lohr um rund 15 Prozent.
Gemäß einer Bekanntmachung auf der obigen Titelseite wurde auch das Wohnhaus des G. Anton Niedermeier am 1. Mai 1851
„auf dem Rathause dahier öffentlich versteigert.“

Unser Schiff war ungefähr so lang wie das Lohrer Spital und eineinhalb Mal so breit. Der untere Raum war gefüllt mit Waren und Proviant, der zweite Stock mit Passagieren und der dritte Stock war die Kajüte des Kapitäns und seiner Familie und der Kajüten-Passagiere. Hier wurden uns unsere Plätze angewiesen. Ich und noch ein Deutscher erhielten die Bettstelle Nr. 9 und Kohler unter uns die Nr. 10. Unter unseren Betten standen unsere Koffer, welche wir öffnen konnten, wenn wir wollten. Rechts und links von uns lagen Irländer, und wir gerade wie die Beute eines Tigers zwischen den Krallen. Nachdem wir alles gehörig verschlossen hatten, legten wir uns voll Sorge in unsere Hängematten.
Am 28. Mai mußten wir auf das Verdeck, wo wir für eine Woche Proviant faßten, nämlich Tee, Zucker, Zwieback und Mehl.
„NEW-YORK“, Schulwandbild um 1890
„NEW-YORK“, Schulwandbild um 1890
Die Überfahrt beginnt - Chronologie der ersten Tage auf hoher See:
30.Mai, früh um 4 Uhr: Die Anker wurden gelichtet, ein Dampfboot zog unseren Coloss aus dem Hafen und die Segel wurden gesetzt. Um 7 Uhr kochten wir uns Tee, um 8 Uhr wurde Wasser gefaßt. Am Mittag kochten wir uns Kaffee und am Abend eine kräftige gebrannte Suppe.
31. Mai: Wir haben in Erfahrung gebracht, daß unsere Mitpassagiere (die Irländer) ein ausgeliefertes Volk ist und wahrscheinlich in Amerika auf einer englischen Besitzung anstatt Skalven Dienst tun wird. ...Auf dem Schiff wird sehr auf Reinlichkeit geachtet. Früh, wenn die Schiffsuhr 6 geschlagen hat, werden sie (die Irländer) mit Knuten, das Zeichen der Knechtschaft, aus ihren Hängematten gejagt und zur Reinigung des Schiffes angetrieben.
„Sturm auf dem Meer“, Glasschiebebild für die Laterna Magica aus der Zeit um 1890
„Sturm auf dem Meer“, Glasschiebebild für die Laterna Magica aus der Zeit um 1890
Anmerkung: Die Laterna magica (= Zauberlaterne) war der erste Bildprojektor, der ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die fabrikmäßige Fertigung relativ
billig und in großen Stückzahlen produziert wurde und schnell den Weg in die Kinderzimmer fand. Die Zauberlaterne war bei den Kindern sehr beliebt und gerade an den langen Winterabenden eine abwechslungsreiche und häufige Form der Unterhaltung.  Bildreihen gab es zu fast allen Themen. Die Buben waren vor allem von den Bildfolgen aus fernen Ländern fasziniert, und mancher Junge träumte beim Betrachten der farbenprächtigen Bilder davon, die bürgerliche Enge seiner Heimat zu verlassen und in der Ferne, etwa im Wilden Westen, die tollsten Abenteuer zu erleben.

1. Juni: Allgemeine Kotzerei. Unser Schiff flog wegen des guten Windes wie ein Pfeil durch die Wellen. Daher auch das allgemeine Übelbefinden an diesem Morgen. Geisterbleich und mit hohlen Augen schlichen die Menschen umher. Im Zwischendeck wurden die Luken geöffnet, damit der Gestank verziehen konnte. Als wir nun so auf dem Verdecke saßen und unsere Reisegesellschaft musterten, so nahmen wir vieles wahr, was wir noch nicht gesehen hatten. Hier saß ein Läusequartier, dort ein Flohquartier, hier rauchten die alten Vetteln ihre irdenen Pfeifchen und dort in einer einsamen Ecke des Schiffes wurde g........ - eine wiederholte Charakterschilderung dieser Säue.

2. Juni: An diesem Morgen konnten wir beinahe nicht aus unserem Bette, da sich in dieser Nacht ein solch heftiger Wind einstellte, welcher das Schiff stets wie einen Ball hin und her warf. Es war uns schlechter denn je, und wir fühlten uns gezwungen liegen zu bleiben. Jedoch gewann ich die Gewalt endlich über mich aufzustehen und einige Zwetschgen zu kochen, damit wir uns wenigstens laben konnten. Auch heute mußten wir wieder auf das Verdeck. Hier sah ich ein Schauspiel, das wenigstens mir nicht bekannt war. Es kam nämlich ein großer Zug Fische ganz in die Nähe des Schiffes. Die Fische ließen sich von Zeit zu Zeit mit dem halben Leib sehen und verschwanden dann wieder mit einem Satz. Auch sahen wir am Abend große weiße Vögel mit zugespitztem Schnabel und Schwanz, welche sich von Zeit zu Zeit, je nachdem sie ermüdet waren, auf das Wasser setzten und sich forttragen ließen. Ebenso sahen wir auch noch eine andere Art, aber bei weitem kleiner als die ersten, die mit unseren Enten zu vergleichen war, aber ungeheuer schnell flog.

3. Juni: Über diesen Tag kann ich nicht viel sagen, denn es war mir so schlecht, daß ich es kaum über mich bringen konnte, die Bleifeder zu ergreifen. Ich habe ein so elendes Gefühl in mir, daß ich mir wünschte, ich wäre gestorben. Und wenn es uns auch nicht so wäre, so müßte es uns so werden, wenn wir auf dem Verdeck bei dem Sauvolke sind. Hätte ich gewußt, daß ich bei meiner Überfahrt solche Menschen zur Gesellschaft bekäme, ich würde lieber mit einer Herde Ochsen oder Sauen übergefahren sein. Ich will mich jetzt nicht weiter ausdrücken, sonst werde ich Mysantrop.

4. Juni: Als wir an diesem Morgen miteinander auf das Verdeck gingen, um unseren Leichnam durch die morgenfrische Seeluft zu erquicken, bemerkten wir einen Haifisch, der sich ganz in unserer Nähe bewogen gefühlt hatte sehen zu lassen. Für einen der noch keinen Haifisch gesehen hat, ist er sehenswert. Auf beiden Seiten rechts und links des Kopfes warf er Wasserstrahlen wie die eines Springbrunnens empor. Auch er erschien eine Zeitlang auf der Oberfläche und verschwand dann wieder. So ist zwar immer etwas zu sehen, aber alles wird einem durch die Seekrankheit zuwider.

Im Orkan – unser Schiff, ein Spielzeug der Wellen:

6. Juni: Heute früh, als ich auf das Verdeck ging, umkreisten einige Vögel unser Schiff, und mit Schaudern erinnerte ich mich daran, daß diese ein Vorbote eines Sturmes sei, bald auch zeigten sich in weiter Ferne lichte Punkte, welche immer näher kamen. Gleich darauf änderte sich der Wind, und um 2 Uhr nachmittags brach der Orkan los. Die Segel wurden eingereft und unser Schiff war das Spielzeug der Wellen.
Heilloses Chaos herrschte im Zwischendeck. Hier fielen einige zu Boden, dort stürzten die Koffer und das Blechgeschirr auf die andere Seite des Schiffes. Hier ertönte Kindergeschrei, dort schlug ein Nachttopf um und verbreitete fürchterlichen Gestank, hier schlug eine Welle über unsere Luke herein und machte alles naß, was in ihrer Nähe war. Kurz, ich sage euch, es war ein Getümmel, daß man glaubte, das Schiff ginge jeden Augenblick unter. Es wird heute eine schöne Nacht absetzen.

7. Juni: Diese Nacht war die schlechteste, welche ich bis daher auf dem Schiff gehabt habe. Das Schiff hatte beständig im Schaukeln eine Lage, als wenn es umfallen wollte, und wir wurden in unseren Hängematten umhergeworfen wie die Heringe. Selbst jetzt noch, während ich diese Zeile niederschreibe, geht die Brandung hoch über mir weg. Kohler sieht aus, als wenn er schon acht Tage gestorben wäre.
Es ist zwar ein Doktor auf dem Schiff, aber was hilft es, er versteht kein Wort Deutsch. Deshalb rate ich keinem, selbst meinem größten Feinde nicht, wiewohl sehr gut für die Auswanderer gesorgt ist, über Liverpool sich einzuschiffen. Ich erfahre es täglich, wie hart es ist, sich nicht einander zu verstehen. Ich kann beinahe nicht mehr schreiben, das Schiff hängt bald auf der einen, bald auf der anderen Seite. Mir wird ganz schwindlich.

8. Juni: Auch diese Nacht habe ich noch kein Auge zugetan. Die See wird immer stürmischer und uns wird immer schlechter, denn das Schwanken des Schiffes ist ungeheuer. Kein Mensch ist im Stande aufrecht zu gehen, sondern man muß an der Seite hinkriechen. Manchmal bekommt das Schiff einen Stoß, dass man meinen sollte, alles ginge in Stücke.
So lebten wir immer in Angst, das Schiff überschlage sich. Endlich legte sich gegen Abend der Sturm etwas, und wir atmeten immer freier auf. Aber noch immer ging die Brandung hoch, und es schlug noch manche Welle über Bord.

9. Juni: Auch diese Nacht tobte der Sturm noch, aber nicht so stark wie in den vorigen Tagen. Es hat jetzt den Anschein, als wenn wir schönes Wetter bekämen. Ich will Gott danken, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen haben werde.

10. Juni: An diesem Tagen sandte uns der jetzt mit uns versöhnte Neptun einen herrlichen Wind und erschreckte die Gewässer nicht mehr durch sein dreizinkiges Scepter. Der Wind blies mit voller Kraft in unsere Segel, und unser Schiff flog gleich einem Vogel durch die jetzt ziemlich ruhigen Wellen des Ozeans.

„Die Sauerei nimmt mit jedem Tag zu“:

17. Juni: Heute haben wir wieder einen sehr stürmischen Tag, daß man sich kaum auf dem Verdeck halten kann. Aber wir ziehen es vor, eher dieses stürmische und schlechte Wetter zu ertragen, als uns hinunter zu begeben in das Stinkloch. Die Sauerei nimmt mit jedem Tag zu. Beim hellen Tag schiffen sie und scheißen sie unter den Hängematten. Hier muß einer bei der besten Natur zugrunde gehen. Wenn ich allweil abends zu Bett gehe, so geschieht es mit Widerwillen und manchmal begebe ich mich nachts auf das Verdeck, um nur auf eine Zeit dem erstickenden Gestank zu entfliehen. Ich glaube schwerlich, daß je von Auswanderern so sehnlich Land gewünscht wurde wie von uns. Ich werde täglich anstatt heiterer schwermütiger, weil ich mit einem solch rohen Volke (den Irländern) auf einem Schiff wie ein Gefangener gehalten werde.

18. Juni: Heute morgen, ehe der Tag graute, erlebte ich eine Scene, welche ich euch hier bemerken will. Als ich zufälligerweise erwachte und keinen Schlaf mehr fand, legte ich mich auf den Bauch und dachte so in dieser Lage über das in kurzer Zeit Erlebte nach. Während meines Sinnens schlich eine Gestalt aus der Hängematte auf meiner Seite und hofierte mit großen Geräusch in den Potschamber (Nachttopf). Kaum war dieses Getöne verhallt, als das Signal weiter oben beantwortet wurde. Als dieses Signal noch mehrmals wiederholt wurde und das Aroma zu lieblich wurde, sprang ich aus meinem Lager und begab mich aufs Verdeck, wo meine Brust wieder freier atmete.
Heute faßten wir zum vierten Male Proviant, um vielleicht noch eine Woche unter diesem Banditenchor zuzubringen.

19. Juni: Der vierte Sonntag war angebrochen. Ich begab mich meiner Gewohnheit nach auf das Verdeck, reinigte mich und zog ein frisches Hemd an, während das alte über Bord flog. Alsdann setzte ich mich an meinen Platz, zündete meinen Gyps  an, nahm mein Notizbuch in die Hand und schrieb in Folge der Langeweile meine Eindrücke nieder. Inzwischen zog das Chor (die Irländer) in Gala auf, mit Pelz überworfen, worin die Motten waren und sonstiger Putz ohne Wert, welchen ich nicht geschenkt möchte. Auch der heutige Tag war wieder eine Ewigkeit.

Anmerkung: Aus den weiteren Tagebuchaufzeichnungen des Franz Niedermaier ist zu entnehmen, dass er am 18. Juli in Boston an Land ging. In der Folgezeit schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Im Oktober 1854 schrieb Niedermaier in sein Tagebuch, dass er den „Keim einer langsam dahinwürgenden Krankheit“ in sich spürte. Er spie Blut und fühlte, „wie die Krankheit um sich greift“. Wahrscheinlich litt er an Tuberkulose.
Nach einem Vermerk in der hinteren Umschlagtasche starb Franz Niedermaier Anfang März 1855 und wurde am 8. März in Boston begraben. Der Traum vom Reichtum in der Neuen Welt war ihm versagt geblieben wie den meisten seiner Schicksalsgenossen.
In der Umschlagtasche befinden sich auch kunstvoll geflochtene kleine Haarteile, wahrscheinlich die einzigen Erinnerungsstücke des Lohrer Auswanderers an seine Familie und Freunde in Lohr am Main.

„Reisebericht“ der Lohrer Auswanderer Jakob Gundlach und Kilian Messer, abgedruckt im Anzeige-Blatt für Lohr und Umgebung am 19. März 1851
„Reisebericht“ der Lohrer Auswanderer Jakob Gundlach und Kilian Messer, abgedruckt im Anzeige-Blatt für Lohr und Umgebung am
19. März 1851 Schon die Überfahrt brachte manche unangenehme Überraschung, wie aus obigem Inserat zu entnehmen ist.
Die beiden Lohrer Auswanderer benötigten für ihre Reise von Deutschland nach Kalifornien fast ein ganzes Jahr.
Von 1820 bis 1909 wanderten etwa fünf Millionen Deutsche nach Nordamerika aus.

(Texte und Kopien von Eduard Stenger, Schulmuseum Lohr a.Main)
(Fotos von Udo Kleinfelder, Lohr a.Main
Das Lohrer Schulmuseum im Ortsteil Lohr-Sendelbach ist von Mittwoch bis Sonntag und an allen gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Gruppen können auch nach vorheriger Absprache außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen. (Kontakt: Eduard Stenger, Zum Sommerhof 20, 97816 Lohr a.Main; Tel. 09352/4960 oder 09359/317, e-Mail: eduard.stenger@gmx.net )

Ernst Huber
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